Es ist nicht schwer, sich mit Nostalgie an die Anfänge des Internet zurückzubesinnen. Als würde die Menschheit einen völlig neuen, grenzenlosen Kontinent entdecken. Einen offenen und verspielten virtuellen Raum mit ungeahnten Möglichkeiten menschlichen Fortschritts. So fühlte sich das damals an, Mitte der Neunzigerjahre. Dass Privatisierungsbemühungen kläglich scheiterten wurde als Beweis gedeutet, dass das Internet für immer frei bleiben wird. Und es ist ja nicht so, dass es dieses freie und unfassbar spannende Internet gar nicht mehr gäbe. Es ist nur sehr gut versteckt hinter den intransparenten Filtern der Suchmaschinen-, Socialmedia-Portalen und hermetisch verschlossenen Smartphone-Apps, die mit datenintensiven Geschäftsmodellen ein kapitalistisches Eldorado mit globaler Reichweite aufbauen konnten. Keine Industrie hat es je geschafft, in so kurzer Zeit Menschen auf dem ganzen Globus mit Dienstleistungen zu erreichen, die perfekt auf die individuellen Vorlieben zugeschnitten sind. Wenige junge, aber unglaublich mächtige Unternehmen konnten mit verhältnismässig wenig Mitarbeitenden enorme Gewinne einfahren und astronomische Vermögen bilden.
Durch den Rentabilisierungszwang der massiv mit Risikokapital anschubfinanzierten Geschäftsmodelle wurde nebenbei die effektivste Überwachungs- und Gesellschaftsmanipulationsmaschine aller Zeiten geschaffen. Die Desinformationskampagne gehört deshalb jetzt in den aktualisierten Werkzeugkasten moderner Geopolitik.
Der überstürzt und wohl auch etwas naiv begangene Weg in die schöne neue digitale Welt kennt weitere Kollateralschäden. Die entstandenen Cybersecurity-Lücken sind einer nie aufdatierten Internet-Architektur geschuldet. Einer Architektur, die eher einer Postkartenversand-Infrastruktur als einem hochsicheren Kommunikationssystem gleicht. Cybererpressung – brandbeschleunigt durch Kryptowährungen – floriert deshalb als neues Geschäftsmodell des organisierten Verbrechens, und die staatliche und private Überwachung und Spionage explodieren.
Damit steht die Selbstbestimmung vieler Menschen, immer mehr Unternehmen und ganzer Nationen auf dem Spiel. Deshalb kommt auch die Schweiz nicht umher, sich dem Thema der Souveränität im digitalen Raum anzunehmen. Souveränität heisst dabei, strategische Handlungsoptionen zu haben und diese auch Tat werden lassen zu können. Souveränität heisst nicht Autarkie. Die Schweiz kann weder digital noch analog komplett selbstversorgend und selbstgenügsam sein. Souveränität heisst Suchen und Nutzen von Gleichgewichten gegenseitiger Abhängigkeiten auf geopolitischer, volkswirtschaftlicher und technologischer Ebene.
Die folgenden Kapitel sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Ansätze aufzeigen, wie die Schweiz den digitalen Herausforderungen begegnen kann.

So offen wie möglich und unknackbar zugleich

Offenheit und Transparenz sind Dreh- und Angelpunkt für digitale Souveränität. Die Open Source Bewegung macht dies durch «kompetitives Kokreieren» seit Jahrzehnten vor. Ist doch die Schönheit von Open Source, dass das einmal gewonnene Erkenntnis sofort globalisiert uneingeschränkt verwendet werden kann und sich das sogar wirtschaftlich lohnt. “Gedopte” menschliche Zusammenarbeit!

Unter Open Source Lizenzen entwickelte veröffentlichte Software – idealerweise vom Betriebssystem durchgängig bis hoch in die Applikationsebene – ist auch Basis für Legitimation. Transparenz erlaubt nämlich, Sicherheitsnachweise zu erbringen und damit Vertrauenswürdigkeit zu schaffen. Dass Abhängigkeit von übermächtigen Unternehmen reduziert wird, ist ein weiterer wichtiger Open Source Effekt.

Covid-App und -Zertifikat illustrieren diese Vorteile bestens, haben doch verschiedenste wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche, unternehmerische und staatliche Akteur:innen nur durch Open Source-Methodik und -Komponenten innert kürzester Zeit Höchstleistung erbringen können. Die Neuauflage einer staatlichen E-ID und die unzähligen weiteren Digitalisierungsprojekte auf allen Staatsebenen müssen diesem Geist folgen.

Genauso steht es um öffentliche Daten: Open Data ist Basis informierter Politik. Einmal nach dem Stand der Technik erhobene Daten kennen keine Grenzkosten. Und keine Grenzen in der Anwendung, wenn sie durch offene Standards interoperabel und idealerweise in Echtzeit erhoben und verfügbar sind. Der Bund hat deshalb für sich Strategien erarbeitet, einige Kantone und Gemeinden ebenfalls. Verinnerlicht ist die Denkweise noch nicht, aber zumindest auf gutem Weg.

Sind die Daten hingegen sensibel oder persönlich, gilt es so sparsam wie möglich damit umzugehen und diese systemisch unknackbar dezentral zu halten. Sicherheit “by design” muss zum vorherrschenden Paradigma digitaler Vorhaben werden. Kryptographie und dezentrale Architekturen sind Schlüsselkompetenzen der Zukunft. Sie sind in Bildung und Forschung entsprechend zu fördern.

Wenig überraschend: Auch in diesen Themen – Kryptographie, Datensparsamkeit und Dezentralität – zeigen Covid-App und Covid-Zertifikat wohin die Reise gehen muss.
Unknackbarkeit kann – ja muss! – übrigens auf Kosten staatlicher und privater Überwachung gehen. Denn die Schweiz kann kein Interesse daran haben, digitale Infrastrukturen bewusst löchrig zu halten, nur um Kriminelle bei Bedarf abfangen zu können. Das ist, als würde man Brücken strategisch schlecht unterhalten, um sie einfacher zum Einsturz bringen zu können, wenn ein Verdächtiger versucht sie zu überqueren. Eine passende bildliche Analogie, die gerne zitiert wird, um das enorme, unter anderem von Edward Snowden nachgewiesene, Missbrauchspotential digitaler Hintertüren für die Befriedigung von Spionagegelüsten zu illustrieren. Ein Missbrauchspotential, das die Schweiz für Massenüberwachung leider sogar gesetzlich in ein Recht überführt hat. Eine Korrektur des Nachrichtendienstgesetzes (NDG) und des Gesetzes bezüglich Überwachung von Post- und Fernmeldeverkehr (BÜPF) ist unabdingbar, will die Schweiz sich glaubwürdig international als rechtsstaatlichen Datenstandort positionieren.

Transparente Algorithmen als Mittel gegen Desinformation und Hetze

Socialmedia-Plattformen und Apps heben im personalisierten Fluss an Informationen Inhalte hervor, welche zu noch mehr Verweilen auf eben diesen Plattformen motiviert. Das ist das Kernelement des Socialmedia-Geschäftsmodells. Nachweislich werden damit Falschnachrichten massiv stärker gewichtet und gesellschaftliche Polarisierung befeuert. Die für die US-Demokratie unwürdigen Wirren im Nachgang der 2020er Präsidentschaftswahl waren auch der Socialmedia-Logik geschuldet. Ähnliche gesellschaftliche Verwerfungen im Zusammenhang mit Wahlen konnten in vielen anderen Ländern verfolgt werden. Diese Plattformen sind heute deshalb systemrelevant. Wegschauen im Vertrauen, dass der Markt dieses Problem von selber lösen wird, wird nicht funktionieren.

Für ein Land wie die Schweiz, mit seinem starken und bei der Bevölkerung nachweislich glaubwürdigen medialen Service Public, böte sich hier eine grosse Chance: Bündelung der Kräfte für den Aufbau eines Schweizer “Info-Feed”, auf welchem journalistische Inhalte aller Medienhäuser personalisiert und mit transparenten Algorithmen publiziert werden.

Die Finanzierung könnte dabei funktionieren, wie wir es von Radio- und Fernsehen können: pauschal eingezogen und gemäss Nutzung der Inhalte an die Produzierenden zurückverteilt. Die SRG – die ideale nationale Akteurin mit dem Zeug dazu – erhielte beim Bereitstellen eines Distributionsnetzwerks eine aktualisierte Daseinsberechtigung. Die enormen Investitionen in Technik, die für ein zeitgemässes digitales Nutzungserlebnis nämlich nötig wären, um mit den “Grossen” mithalten zu können, sind auf Dauer kaum via die vielen Insellösungen der einzelnen Medien finanzierbar. Gerade private Verlage könnten sich mit einer starken gemeinsamen öffentlichen Technikinfrastruktur vom Zwang zur Vermarktung durch Werbeeinnahmen emanzipieren und sich wieder vermehrt auf Inhalt und ihre wichtige Rolle als «Vierte Macht» konzentrieren. Zugegeben, das wäre ein Paradigmenwechsel in der Medienförderung. Aber vielleicht auch ein Ausweg aus der Medienkrise, an welcher letztlich der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet.

Und auf welchen Rechnern und in welchen Netzen soll das alles betrieben werden?

Eine grosse Herausforderung ist die Souveränität über die Netzwerk- und Server-Infrastruktur. Gerade aus ökologischer Perspektive ist eine möglichst gut ausgelastete Cloud-Infrastruktur vorteilhaft, soll der digitale Energieverbrauch nicht ins unermessliche steigen.

Demgegenüber steht hingegen die Tatsache, dass Jurisdiktion nicht mehr über territoriale Grenzen, sondern über die Hauptsitze der kontrollierenden Unternehmen durchgesetzt wird. Der US-Cloud Act illustriert dieses Problem gut: Durch ein amerikanisches Unternehmen gespeicherte und bearbeitete Daten sind auch dann nicht vom Durchgriff durch den amerikanischen Staat geschützt, wenn die Server in der Schweiz stehen. Das dürfte wohl ebenfalls umgekehrt – zumindest gesetzlich – gelten. Daraus folgt jedoch, dass sensible Daten auf “fremden” Infrastrukturen unknackbar verschlüsselt bearbeitet werden müssen, oder solche Infrastrukturen allenfalls durch Schweizer Entitäten treuhänderisch zu kontrollieren sind.

Diese Umstände bieten aber auch ein grosses Innovationspotential für den Hosting-Standort Schweiz, wie auch für die internationalen Cloud-Anbieter. Die Eidgenossenschaft ihrerseits, mit über einer Milliarde Franken jährlichen IT-Ausgaben als eine der grössten Bezügerinnen, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Denn ob sie will oder nicht, betreibt sie mit den unzähligen Beschaffungen Industriepolitik. Im Sinne der digitalen Souveränität und Nachhaltigkeit hat sie deshalb die Eignungs- und Zuschlagskriterien bei Vergaben entsprechend zu steuern.

Bleibt die Herausforderung der Monopolbildung

Digitale Dynamik hat eigen, dass ein Gewinner häufig den ganzen Markt komplett einnimmt. Skaleneffekte, die sich dadurch ergeben, sind aus Nutzer:innen-Perspektive auf den ersten Blick interessant und komfortabel, befindet sich doch an einem Ort einfach zugänglich ein mit grossem Aufwand perfektioniertes Angebot, und tummeln sich Gleichgesinnte ebenfalls dort.

Aus einer Souveränitäts- aber auch aus Wettbewerbsperspektive ist Monopolbildung hingegen ein ernsthaftes Problem. Denn wenn ein Akteur die Bedingungen weltweit bestimmen kann, verzerrt dies den Marktzugang und behindert mittelfristig Innovation. Deshalb muss dieses Thema angegangen werden. Die Schweiz als kleines Land kann alleine wenig ausrichten. Die Länder der Europäischen Union sind diesen globalen Unternehmensschwergewichten genauso ausgeliefert, haben aber im Verbund wesentlich mehr Kraft, die Stirn zu bieten. Und die EU beweist auch immer wieder, dass sie diese umzusetzen weiss, wie die Beispiele des Datenschutzgesetzes oder Digital Markets Act (DMA) und Digital Services Act (DSA) bei aller berechtigten Kritik beweisen. Für die Schweiz ist deshalb die Nähe zur EU unabdingbar, und am besten mitbestimmend!

Die Schweiz trotz allem hat gute Karten!

Zugegeben, selbstbestimmten gesellschaftlichen Nutzen der Digitalisierung ins Zentrum zu stellen klingt nach einer Herkulesaufgabe. Sie ist aber alternativlos, wenn sich die Schweiz – und notabene ganz Europa – nicht durch politisch instrumentalisierte amerikanische Plattformökonomie oder staatskapitalistische, chinesische Netzwerktechnologie kolonialisieren lassen will. Die Schweiz hat jedoch mit ihrem innovativen Werkplatz, der Berufsbildung und den Hochschulen gute Trümpfe in der Hand, zu der Weiterentwicklung hin zu einer, den Menschen zu Gute kommenden, souveränen, digitalen Sphäre einen wichtigen Beitrag zu leisten. Nicht nur zur Linderung der Bedrohung, sondern richtig angegangen auch als enorme Chance für das Cyber-Exportland Schweiz.

Hinweis: Dieser Text ist im Rahmen des Buchprojekts «Nationale Datenstrategie Schweiz» entstanden und im Weber Verlag erschienen.